Reinhard Goebel ist eine lebende Legende der Alten Musik und ein mitreißend lebendiger Dirigent moderner Orchester und Kammerorchester. Seit er als Jugendlicher seine Liebe zur Barockgeige entdeckte, hat er nie aufgehört, Fragen von Bogenstrich, Fingersatz und Artikulation bis zur letzten Note akribisch zu lösen – sei es mit altem oder „modernem“ Instrumentarium. Reinhard Goebel ist ein Fanatiker des durchstrukturierten Streicher-, Ensemble- und Orchesterklangs. Seit er vor einem halben Jahrhundert sein Ensemble „Musica Antiqua Köln“ gründete, hat er dadurch Gewohnheiten der Aufführungspraxis immer wieder in Frage gestellt und neue Standards gesetzt, was Brillanz, Esprit und Eloquenz der Musik betrifft. In den letzten beiden Jahrzehnten hat er diesen Ansatz auch auf dem Dirigentenpult moderner Orchester übertragen.
33 Jahre lang war „Musica Antiqua Köln“ sein Medium, das virtuoseste und einflussreichste Barockensemble, das jemals in Deutschland gegründet wurde. Die Zahl seiner klassischen Aufnahmen ist Legion. Zu ihrer Zeit waren sie bahnbrechend für einen neuen Höchststandard der historischen Aufführungspraxis, der nie übertroffen wurde: gnadenlos zusammen, sauber, laut und präsent, mit dem adäquaten Zugriff für jeden Komponisten von Biber bis Bach, durchgestaltet in jeder Note vom Continuo bis zur ersten Geige und dabei so voller Elan, dass einem die Aufführungen nicht weniger mitrissen als die CDs. Goebel gelang das Wunder, im Konzertsaal ebenso präsent und brillant zu klingen wie auf Tonträger – eine absolute Ausnahme unter den großen Namen der Alten Musik. Wer die „Musica Antiqua“ in ihrer besten Zeit gehört hat, wird den „Eclat triomphal“ des Klangs und den „Elan terrible“ der Tempi nie mehr vergessen können.
Schon kammermusikalisch rüttelte der Barockgeiger Reinhard Goebel die genügsame Welt der Achtziger Jahre gehörig wach: durch seinen leuchtenden Ton und den fantastisch vielfältigen Bogenstrich im „Musicalischen Opfer“ und den Geigen-Cembalo-Sonaten von Bach, bei Telemann und Couperin, aber auch bei Buffardin und Corrette. Die Nebengleise zu erkunden, die oft genug die Hauptbahnstrecken der Musikgeschichte waren, hat Goebel stets ein intellektuelles Vergnügen ohne Grenzen bereitet. Diese Lust wurde für das Publikum umso ansteckender, je mehr „Musica Antiqua“ zum Barockorchester mutierte: zuerst mit der „Hamburger Ebb‘ und Flut“ von Telemann samt einer französischen Ouvertüre ohne jede Überpunktierung; dann mit Bachs Orchestersuiten und den unfassbaren „Brandenburgischen Konzerten“; schließlich mit der unübertrefflichen „Tafelmusik“ von Telemann, den „Dresdner Concerti“ von Heinichen und viel italienischer Musik zwischen Valentini und Veracini. Große Sängerinnen wie Anne Sofie von Otter, Magdalena Kozena oder Christine Schäfer lösten die Barockstimmen früherer Aufnahmen ab, um mit Goebel Monteverdi und Vivaldi, Bach und Händel aufzuführen.
Schon in diesen Aufnahmen zeichnete sich ein Wandel zum mehr „traditionellen Klang“ ab. Im neuen Millennium steuerte Reinhard Goebel zwangsläufig auf ein neues Medium zu: auf das „moderne“ Kammer- und Sinfonieorchester. Was er in der Alten Musik, auf Darmsaiten und Traversflöten nicht mehr sagen konnte, weil er schon alles gesagt hatte, entfaltete er nun mit der gleichen Akribie und Kompromisslosigkeit im „großen“ Klang der Orchester. Die Tugenden der Alten Musik auf „moderne“ Streicher zu übertragen, wurde für den leidenschaftlichen Geiger zur neuen Berufung. Am Pult diverser Radiosinfonieorchester in Deutschland erweckte er Mannheimer Musik von Cannabich und Johann Christian Bach zu neuem, blühendem Leben. Danach mischte er die Wiener Klassik von Salieri bis Mozart auf und wies auf die vergessenen Italiener und Franzosen im Schatten Mozarts hin. Sofort wurde deutlich, dass er auch zu den bekanntesten Mozartwerken unerhört Neues zu sagen hat: zu den Violinkonzerten und zur „Idomeneo“-Chaconne, zur „Kleinen Nachtmusik“ und zur großen „Finalmusik“. Die Zahl der Orchester, die ihm auf diesen Entdeckungsreisen folgten, ist beständig gestiegen: Bayerische Kammerphilharmonie und Mozarteum Orchester, Karajan Akademie der Berliner Philharmoniker und hr Symphonieorchester. Auch im Ausland, in Frankreich und den Niederlanden, der Schweiz und Italien, hat Goebel mit seiner Wiener Klassik ohne Scheuklappen für Furore gesorgt. Dieser Weg gipfelte zum Beethovenjahr 2020 in seinem großen Zyklus mit Beethovens Zeitgenossen wie Romberg, Hummel, Voříšek, Salieri u.v.a. Daneben ist er auch der Barockmusik treu geblieben, verwandelt im Medium moderner Kammerorchester wie etwa der Berliner Barocksolisten. Auch wenn Reinhard Goebel mit modernen Orchestern Bachs Matthäuspassion dirigiert, bleibt er, was er immer gewesen ist: ein Forscher auf der Suche nach dem wahren Geist und Klang von Biber über Bach bis Beethoven.
Im Erkunden dieses Klangideals ist sich Reinhard Goebel stets treu geblieben. Dazu passt, dass er seit 2010 an der Musikhochschule Mozarteum in Salzburg den Lehrstuhl für historische Aufführungspraxis bekleidet – beileibe nicht nur für Spezialisten auf Barockgeigen. Zum Dirigenten Reinhard Goebel wie zum Professor gehören Leidenschaft und kritischer Geist ebenso dazu wie unerbittliche Genauigkeit und die Abscheu vor verstaubten Konventionen, die sich nicht aus der Musik und der Stillehre der Zeit begründen lassen. Ein Intellektueller mit Feuer und Schwert in Gestalt von Geigenbogen und Partitur.