Motto 2019

»EIN KÖNIGREICH DER KÜNSTE«

Wir mögen uns wundern, aber es ist eine Wahrheit darin, wenn man sagt, dass das Zeitalter des Absolutismus damit begonnen hatte, dass viele Menschen glaubten, die Tyrannei sei besser als das Chaos. Der Absolutismus, also die uneingeschränkte Macht und Herrschaft des Königs, machten im 17. und 18. Jahrhundert dem konfessionellen Wahnsinn und der Selbstzerfleischung Europas ein Ende. Die Welt der Menschen fand zur Ordnung zurück; und darüber hinaus noch mehr: Man wollte „Sonne“, man wollte neuen Glanz, neuen Klang, neue Schönheit und ein neues Leben. Tatsächlich entstand in Europa im 17. und 18. Jahrhundert die Kultur des Barockzeitalters. Sie manifestierte ein verändertes Welt- und Menschenbild und führte zu neuen Farben und Formen, aber auch zu anderen Bewegungen und Prozessen, als es vormals zu Zeiten christlich geprägter und geglaubter Lebensordnung der Fall war.

In der Tat wurde ganz Europa zur Baustelle einer neuen Lebensära. Überall und ausgehend von Frankreich, vom königlichen Hof des Louis XIV., wurde gebaut, geforscht und gestaltet in einem neuen Stil. Vor allem aber wurde der Mensch aus alten Hierarchien herausgeholt und zur Eigenpersönlichkeit erhoben.

Eine „musica nova“, ausgelöst und inspiriert durch Impulse aus Italien, entstand.
Sie erschuf sich eine Öffentlichkeit; eine Resonanz und ein Publikum, das an den neuen Spielarten Gefallen fand – nämlich das Innere des Menschen im Sinne von Empfindung, Leidenschaft einerseits und Verstand andererseits auszuleuchten und zur Darstellung zu bringen. Die Oper sollte zum Mittelpunkt einer sich über ganz Europa ausbreitenden Musikkultur werden; die Oper, eine Kunstschöpfung, gefügt aus den verschiedenen ästhetischen Elementen auf der Grundlage von neu erworbenen Techniken; eine Zusammenfügung des Verschiedenen, hervorgegangen aus dem modernen Ordnungsdenken.

Das Zeitalter der Aufklärung war es, das ein „Königreich der Künste“ schuf. Doch gleichzeitig und unabsichtlich bereitete es auch der Vernunft den Weg und schuf subversive Entwicklungen. Der Absolutismus, zunächst ein Heilmittel gegen den drohenden Zerfall Europas, trug ein Gift in sich, und dieses schuf der barocken Lebenskultur das Ende.

Schon der große englische Dichter John Milton schrieb Mitte des 17 . Jahrhunderts: „Wir erkennen und bekennen, dass alles Gottes ist auf Erden wie im Himmel, dass
alles durch ihn besteht, alles von ihm geschieht. Aber dieses allgemeine Recht Gottes hebt nicht auf das Recht des Volkes. Deswegen sollen alle Könige ihren Ursprung im Volke erkennen und ihm für ihre Macht Dank wissen.“

Dieses Denken in seiner Verschränkung von Gott, König und Volk hat eine große Kultur und unendlich viele großartige Musik für die Menschen hervorgebracht, Musik
aus einem Glauben geboren, wie die von Johann Sebastian Bach, die uns heute noch in eine Welt versetzt, die uns berührt, weil sie ein kosmisches Ordnungsdenken ausdrückt, das uns nur mehr Sehnsucht sein kann. Dieses Empfinden hat aber auch Werke wie die Eroica-Symphonie von Beethoven und später auch Komponisten wie Schumann, Mendelssohn, Bruckner und Wagner hervorgebracht. Ihre Zeitgenossen erkannten in Klang und Bewegung sich entfaltender Musik, dass um die Einheit aus Gott, König und Volk und aus dem Wunsch nach Gemeinsamkeit unter den Völkern und Gesellschaften gekämpft und gerungen werden musste.

Es waren von etwa 1600 bis 1900 drei Jahrhunderte, in denen Europa einen einzig.artigen Klang in die Welt brachte: Das Melodische und Harmonische in der Musik ist durchdrungen von einem Geist der Humanität, der uns heute noch mit dem Streben nach einem Glauben an Versöhnung und Harmonie beseelt.

Alle Programme der diesjährigen Herrenchiemsee Festspiele sprechen vom Geist und von der Energie im Einsatz für ein neues Leben; sie sprechen vom Willen einer Epoche, die durchaus auch von schmerzlichen Dissonanzen geprägt war. Nie wurden diese Wunden in der Musik und in den Künsten unterschlagen und schnell vergessen. Im Gegenteil! Das Inständige so vieler Musik, ob in der von Vivaldi, von Carl Philipp Emanuel Bach, von Haydn oder Mozart oder eben auch in der von Bruckner, der seine 7. Symphonie dem Bayernkönig Ludwig II., seine 8. Symphonie dem habsburgischen Kaiser Franz Joseph und schließlich seine letzte Symphonie dem „lieben Gott“ gewidmet hat. Dieses „Inständige“ ist Zeugnis eines großen Willens, wie er andererseits auch im musikalisch Rebellischen bei den Revolutionskomponisten Gossec und Méhul oder dann bei Schumann zum Ausdruck kommt.

Auf ein Programm sei hier besonders hingewiesen. Es ist der Königin von Schweden Christina (1626 – 1689) gewidmet, der Tochter des protestantischen Kriegsfürsten Gustav II. Adolf. Diese Christina entwickelte sich zu einer hochgebildeten und wissensdurstigen Monarchin. Ihr war in ihrer Heimat ein großer kultureller Entwicklungsschub zu danken. Doch damit nicht genug. Sie wurde zur Europäerin, lebte in Antwerpen und Brüssel sowie schließlich in Rom, wo sie zum Katholizismus konvertierte und 1689 starb. Viele Komponisten in ganz Europa zählten zu ihren Schützlingen. Sie lebte und gab vor, wovon die Musik der Zeit und deren Nachfolge sprach und immer wieder Ausdruck gab: von Freiheit der Menschen, von Recht und Gleichheit sowie von Frieden unter den Menschen, den Gesellschaften und Völkern.