Motto 2012

DIE MUSIK DER WORTE

Der König als Leser. Ludwig II. von Bayern ging zwar als Erbauer grandioser Schlösser und als leidenschaftlicher Bewunderer Richard Wagners in die Geschichte ein. Aber er war auch ein Literaturfreund von erstaunlicher Belesenheit. Der poetische Kanon seiner Epoche stand ihm souverän zu Gebote. In seinen Separatvorstellungen kamen auf eine Oper fünf Aufführungen des klassischen und modernen Sprechtheaters. Während seiner letzten Lebensmonate zählten die Werke Edgar Allan Poes zu seinen ständigen Begleitern. Literatur durchdrang sein ganzes Fühlen und Denken. So erschließt sich auch der Subtext seiner eigenen Briefe und Aufzeichnungen oft erst dann, wenn man sie zugleich als Reflexe seiner Lektüre wahrnimmt.

Denken in Texten und Tönen. Allerdings war Ludwigs literarisches Denken durchtränkt von Musik. Selbst wo er Privatissima formulierte: poetisch-musikalische Assoziationen blieben untrennbar damit verbunden. So notierte der König am Tag der Trennung von seiner Verlobten: „Sophie abgeschrieben. Das düstere Bild verweht: nach Freiheit verlangt mich, nach Freiheit dürstet mich…“ – und lieferte damit das Beispiel einer durch und durch konditionierten Weltwahrnehmung. Denn „Das düstere Bild verweht“ paraphrasiert offenkundig Lohengrins Gesang im Brautgemach „Das süße Lied verhallt“. Während der Rest der Passage fast wörtlich Tannhäusers Aufbegehren gegen die erotischen Fesseln der Venus wiedergibt. Dergestalt versuchte Ludwig, durch Vermittlung von Musik und Dichtung seiner eigenen Gefühle Herr zu werden.

Die Musik der Worte. Unser Programm 2012 nimmt die Allgegenwart von Poesie und Klang in Ludwigs Fühlen zum Anlass, um über das Verhältnis von Literatur und Musik schlechthin nachzudenken. Allerdings geht es dabei nicht um die selbstverständliche Verbindung beider Medien in Oper und Kunstlied, sondern um ein spezifisch literarisches Moment, das über diesen Grundkonsens hinausträgt. So betritt in Monteverdis „Orfeo“ demonstrativ der mythische Dichter und Sänger die Bühne des Musiktheaters. Beethoven brachte in der 9. Symphonie das Orchester zum Sprechen, um sodann durch Schillers „Ode an die Freude“ den sinfonischen Typus schlechthin literarisch aufzubrechen. In einer ebenso kühnen wie folgenreichen Entscheidung vertonte Robert Schumann mit „Das Paradies und die Peri“ einen Bestsellertext des Dichters Thomas Moore und schuf damit den Typus des Literatur-Oratoriums. Giacomo Puccini endlich wählte als Stoff für „La Bohème“ einen Künstlerroman, in dem der Protagonist selbst Literat und Dichter ist.

Klangrede und Verkündigung. Spätestens durch Beethoven wurde die Tür weit aufgestoßen für das Genre redender Musik. So erscheint bei Liedkomponisten wie Robert Schumann und Johannes Brahms das Einbeziehen vokaler Strukturen in ihre Instrumentalwerke fast schon selbstverständlich. Tschaikowsky schrieb seine 5. Symphonie gezielt als Autobiographie in Tönen. Während Schostakowitschs 1. Cellokonzert sich als komplex verschlüsselter politischer Kommentar erweist. Aber auch den Grenzgängen zwischen Musik und Sprache widmet sich unser Programm – sei es in Schönbergs Melodram „Pierrot Lunaire“ oder in E.T.A. Hoffmanns Musiknovelle „Ritter Gluck“. Und wenn Johann Sebastian Bach in seinen Kantaten gemäß dem Johannes-Evangelium das Wort selbst zum Thema macht, ist Musik als Mittel der Verkündigung erst gänzlich bei sich selber.